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Ein Essay über die Möglichkeiten der Erkenntnis

I.

Es begann mit einer Suche. Fragen stiegen auf, wie Luftblasen. Große Fragen – wartend auf große Antworten. Ein unstillbarer Durst, ließ meinen Verstand nicht zur Ruhe kommen. Sehnsucht nach dem großen Geheimnis.

Schon früh machte ich mich auf den Weg. Ich wählte den Weg des Verstandes, den Weg des rationalen Denkens. Es ist der Weg des rechten Winkels. Dies ist der Weg, den ich bis jetzt gegangen bin. Der richtige – ja, der einzige Weg zum Ziel, – so war ich überzeugt.

Warum? – In unseren Bibliotheken stapelt sich das Wissen. Schwarz auf Weiß wird alles festgehalten, es gibt für alles ein Fach. Unsere Mathematik ist der harte Fels der Wahrheit. Er trotzt der Brandung des Zweifels und der Unsicherheit. Präzise wie ein Uhrwerk läuft die Mechanik der Logik. Die Naturwissenschaften machen sich die Natur untertan. Sie beherrschen die Elemente, sie erklären Geist und Materie.

Der freie Wille? – Nur noch Illusion.
Gott? – ist längst tot.
Die Welt wird reduziert auf eine Gleichung.

Mächtig und schön, wie der Turm zu Babel ragt das Gebäude der Wissenschaft in den Himmel und wächst immer weiter und weiter. Seine glänzenden Bausteine sind reine Wahrheiten. Sein Kitt ist messerscharfe Logik. Bald wird es den Himmel durchstossen.

Ist es so? – Es schaudert mich nun bei diesem Gedanken. Wer den Verstand über alles erhebt, der baut ein Dogma. Er wird zu einem blinden Gläubigen und die Wissenschaft wird seine Kirche.

Was kann ich also auf diesem, rechten Weg erreichen? Kann der Verstand Erkenntnis bringen? Ist die Wissenschaft im Besitz der Wahrheit? Ist die Erkenntnis das Ziel und der Zweck meiner Suche?

Kann man mit Pfeil und Bogen den Mond treffen?
Natürlich nicht. Der Mensch ist schlau wenn es um Pfeil und Bogen geht. Doch wenn der Pfeil sein Verstand und der Mond die Wahrheit ist?

Die Wissenschaft hat mit Wahrheit soviel zu tun, wie die Rechtschreibung mit Poesie. Sie ist ein großes, hypothetisches Gebäude. Eine Hypothese baut auf der anderen auf, sie sind verbunden durch Logik. Unsere Fähigkeit logische Schlüsse zu ziehen ist ein Geschenk der Evolution, sie hat sich einfach als praktisch herausgestellt. Die Erfahrung hat dies gezeigt. Wer sagt, das logische Schlüsse Wahrheiten produzieren?

Und worauf steht dieses Gebäude? Wie ist das Fundament beschaffen? Der Anfang aller Wissenschaft steht die Erfahrung. Die Finger unserer Hände sind die Grundlage für unsere Zahlen. Auf unseren Erfahrungen gründet unser Verstand.

Wenn das Bauwerk der Wissenschaft auf Erfahrungen ruht und seine Wahrheiten durch Regeln zusammengehalten werden, die sich lediglich als praktisch für unser Überleben herausgestellt haben, wieviel sind diese Wahrheiten dann noch wert?

Unsere Erfahrungen basieren auf unserer Wahrnehmung. Doch was nehmen wir wahr? Wahrnehmung ist kein passiver Prozeß. Unser Sehsinn bildet nicht ab, wie ein Fotoapparat. Er konstruiert eine Erscheinung aus den Bauteinen des Geistes. „Wir sehen nur, was wir kennen.“ (Goethe)
Wir können nur mit einem kleinen Bereich unserer Netzhaut scharf und farbig sehen, trotzdem erscheint uns unser gesamtes Blickfeld scharf und farbig zu sein.

Wir sehen nicht was wir sehen, – wir sehen, was wir zu sehen glauben.

Wahrnehmung ist also ein konstruktiver Prozeß. Unsere Wahrnehmung ist eine Wahrwerdung – unsere Wirklichkeit ist ein Konstrukt unseres Denkens. Das Undenkbare können wir nicht wahrnehmen.

Die Wissenschaft versucht Ordnung in unsere Wirklichkeit zu bringen. In eine Wirklichkeit, die ihrerseit ein Konstrukt unseres Denkens ist, und die gebaut wurde, nach dessen Gesetzmäßigkeiten. Hier schließt sich der Kreis: „Der gesetzmäßige Zusammenhang der Erscheinungen entstammt dem Verstand.“ (Kant)
Was wir zu erkennen glauben, haben wir selbst hineingelegt. Da ist sonst nichts. Die einzige Erkenntnis, die wir in dieser Wirklichkeit finden können, ist Erkenntnis über uns selbst.

Die Wissenschaft ist nur ein Spiel mit Begriffen und Hypothesen, eine Erfindung des Menschen, kein Fels in der Brandung, sondern ein Eisberg. Er stellt genausowenig festen Grund dar, wie die Oberfläche des Meeres, in dem er dahin treibt.

Nun steh‘ ich hier, ich armer Wicht – doch schlauer bin ich nicht.

II.

Doch allmählich überkommt mich eine Ahnung von einem zweiten Weg. Er ist bisher nur schemenhaft zu erkennen. Ich nenne ihn den linken Weg, den Weg des Herzens, des Geistes, den Weg des Zirkels.

Um diesen Weg zu gehen, muß man sich von der Herrschaft des Verstandes befreien. Er muß zum Werkzeug werden, das man nur noch benutzt, wenn es angebracht ist. Aber wie knackt man die harte Schale des Verstandes, der unsere Empfindungen, unsere Ahnungen und unseren Glauben umschließt?

Ich hatte als kleines Kind ein Buch, darin war ein Hund abgebildet. Er jagte seinem eigenen Schwanz hinterher und drehte sich dabei wild im Kreis. Damals fragte ich mich: Angenommen der Hund erwischt seinen Schwanz und beginnt, sich von hinten aufzufressen. Wie weit wird er kommen? Wird er sich ganz auffressen? Wird der Hund am Ende verschwunden sein?

Diese Vorstellung bereitete mir Kopfzerbrechen, aber irgendwie ging eine sonderbare Faszination von diesem Gedanken aus. Die Vorstellung das der Hund verschwindet ist irrational. Sich das Unvorstellbare vorzustellen, ist ein Rätsel, ein Paradoxon, das der Verstand nicht lösen kann. Und genau das soll er auch nicht.

Später begegnete ich etwas ähnlich faszinierendem: Dem Koan. Das ist ein Dialog oder eine Aufgabe, die nicht mit dem Verstand lösbar ist. Der Zen-Meister Lin-Chi benutzte den Koan, um seine Schüler in Verzweiflung zu versetzen und über das alltägliche rationale Denken hinaus zur plötzlichen Erleuchtung zu führen.

Der Schüler meditiert über den Koan, mit dem Ziel, den Strom der Gedanken und Gefühle zum Stillstand zu bringen, sodaß der Geist frei wird und den Schleier der oberflächlichen Erscheinungen durchdringen kann.

Der rationale Verstand kämpft vergeblich um eine logische Antwort. Nachdem sich alle rationalen Versuche als falsch herausgestellt haben, wird der Verstand in einem Moment der Schwäche von der linken Seite, dem Geist gebannt:
Der Zirkel liegt auf dem Winkel.
Die rationale Schale zerspringt, der Schleier der Illusion wird durchtrennt.

III.

Unsere Augenbinde stellt symbolisch unsere Unfähigkeit dar, das Wesentliche mit den Sinnen zu erfahren und mit dem Verstand zu begreifen.
„Wenn Du den Buddha finden willst, musst Du in Deinem Geist suchen. Ausserhalb des Geistes gibt es keinen Buddha.“ (Hakuin 1686-1769)

Der Zirkel berührte unsere linke Seite, das Herz, den Geist.
Sein Griff liegt im Osten und er wird vom Licht geführt. Seine Enden bändigen den rechten Winkel. Sie nehmen die dualistischen Gegensätze des rationalen Denkens auf – und vereinigen Sie in seinem Griff. Er ist der Mittler zwischen Verstand und Licht.

Betrachtet man die Aufforderung „Erkenne Dich selbst!“ also als Koan, führt Sie nicht zur Erkenntnis, sondern zur Veränderung. Das Ziel wird erreicht, weil das Ziel bereits im Beschreiten des Weges liegt. „Der Weg ist das Ziel.“ Das Streben nach Erkenntnis läßt uns unsere Begrenztheit ahnen.

Es ist eine Sache den Weg zu kennen – und eine andere ihn zu beschreiten. Ich habe gerade erst begonnen den linken Weg zu sehen. Ich halte inne und blicke mich um. Der Durst nach Erkenntnis wird schwächer und weicht stiller Bewunderung.
Nun mache ich mich auf, die Geborgenheit sicheren Wissens zu verlassen. Auf dem Winkel stehend ist mein Blick nach Osten gerichtet und die Enden des Zirkels sind mein nächstes Ziel.

Freimaurei ist „die Kunst, ahnungsvoll recht zu leben, –
ohne die Einbildung des Erkennens zu haben.
Bewußt nicht wissen, ist höchstes Wissen.“ (Endres)

* * *

Quellen:
Franz Carl Endres: Das Geheimnis des Freimaurers, Franz Mittelbach Verlag, Stuttgart, 1949.
Caspar Nink: Sein und Erkennen, Kösel-Verlag, München, 1952.
Stephen Hodge: Die Welt des Zen, Urania Verlag, Neuhausen/Schweiz, 2001.

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