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Nach einer unruhigen Nacht werde ich unsanft durch das Telefon aus einer mir nicht offenbarten Traumwelt gerissen. Grau und trübe hängt der Morgen über der Landschaft. Die Luft scheint an diesem 11. November des Jahres 2000 ebenfalls grau und bleiern, ohne jegliche Ambition, als Lebensspender tätig zu werden. „Guten Morgen Herr Torm., hier spricht Frau Dr. Ti. vom allgemeinen Krankenhaus Barmbek. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass ihre Mutter völlig wider Erwarten verstorben ist.“ „Verstorben ist“?! Angst, Glück, Zorn, Trauer, Hoffnungslosigkeit und … Einsamkeit, all diese Emotionen überfluten mich. In einem Strudel aus Gefühlen werde ich gleich einer Achterbahnfahrt hin und hergerissen. Aber ein Gefühl hat sich immer stärker in den Vordergrund gedrängt! In diesem Moment erfahre ich wirkliche Einsamkeit, gleich einer Leere aus der Mitte meines Körpers, die mit zunehmender Geschwindigkeit alle Körperfunktionen außer Kraft setzt. Ein normales Empfinden und Handeln ist diesem Augenblick nicht möglich. An diesem Morgen nehme ich meine Umwelt nur durch ein dickes, schweres Tuch wahr; außer mir und meinem Schmerz sowie meiner Einsamkeit gibt es nichts anderes auf der Welt.

Bis zu diesem Tage hatte ich mich eigentlich in einem Umfeld gedacht, das mir zugetan ist; doch trotz einer großen Familie mit starken sozialen Bindungen und einer Partnerschaft mit einer starken emotionalen Bindung war ich alleine. Es war für mich nicht zu realisieren, warum mir niemand, der mir sonst sehr nahe stand, helfen konnte. Aller Trost und alle Beileidsbekundungen konnten diese Leere in mir nicht füllen. Ich habe einen Menschen unwiederbringlich verloren. Trotz einer nicht sehr tiefen Bindung zu meiner Mutter hat sich in mir diese Leere verbreitet.

Seit diesem Zeitpunkt hat sich meine Wahrnehmung in Bezug auf Einsamkeit drastisch verändert. So war mir früher nie aufgefallen, wie einsam man unter einer großen Anzahl von Menschen sein kann. Mir war nie aufgefallen, wie viel Zeit man damit verbringt, seine Einsamkeit bzw. Leere versucht zu füllen, indem man anderen Menschen gerecht wird. Mir wurde bewusst, dass ich auch im Kreise der Familie dieses Gefühl erfahre. Ich musste mir eingestehen, dass ein Vater oder ein Halbbruder nicht gleich ein Vertrauter ist, dem man sein Innerstes erzählen möchte. Oder man erfährt, dass sich andere doch nicht wirklich mit dir auseinandersetzen möchten, weil ihnen ihr eigenes Umfeld nicht die Gelegenheit dafür gibt. Es war die Zeit der inneren Leere: Keine Rückkopplung, Körper und Geist entzweit.

Ich möchte in meiner Zeichnung aber nicht hauptsächlich auf die innere Einsamkeit eingehen, sondern vielmehr auf die Einsamkeit ansprechen, die man erfährt, wenn man sich von einer Gruppe nicht verstanden fühlt.

Was führt nun zu dieser Art Einsamkeit? Ist sie nur eine Erscheinung unserer Zeit? Nein, Einsamkeit ist ein Grundgefühl in uns, mit dem wir uns immer wieder auseinandersetzen müssen. Bedingt durch den Wandel der Zeit, haben sich nur ihr Erscheinungsbild und ihre Ursachen verändert. Nach jüngsten Studien sind es erstaunlicherweise sogar eher jüngere als ältere Menschen, die über diese „Leere“ bzw. Einsamkeit klagen.

Die sogenannte „Nestflucht“ der jüngeren Generation und das Sich-nicht-bewusst-Machen, welch negativen Effekt diese auf das Gefühlsleben haben kann, wenn man sich aus der Geborgenheit des Elternhauses und des gewohnten Umfeldes löst, sind nur ein Mosaikstein auf dem Weg in die Einsamkeit. Das Entwickeln eigener Wertvorstellungen und das Erstellen eines Lebensplans werden ab jetzt von einem verlangt. Wie groß ist die Enttäuschung, wenn der „Plan des Lebens“ nicht so gelingt wie gedacht, sei es beruflich oder privat; ganz zu schweigen davon, wenn der durchdachte „Lebensentwurf“ gänzlich scheitert. Wie schwer ist es dann, neue Bindungen und noch vielmehr vertrauensvolle Bindungen einzugehen. Was bleibt sind oftmals sehr diffuse Vorstellungen eines idealen Menschen.

Da kommt uns doch die neue „Spaß-und-Single-Gesellschaft“ gerade recht. Nur ja keine soziale Verantwortung übernehmen!! Lebe jetzt und genieße den Augenblick. Der Focus liegt nicht mehr auf einer langfristigen Lebensplanung, so wie unsere Eltern es uns vorleben bzw. vorgelebt haben. Alte Normen gelten nicht mehr; die regulierende Kraft der Tradition fehlt teilweise oder ganz. Sind Traditionen überhaupt noch vorhanden? Neue Handlungsorientierungen, die Sicherheit im Alltag geben sollen, sind allgemein verbindlich noch nicht gefunden oder haben sich noch nicht durchgesetzt.

Resultiert die Einsamkeit des Menschen aus dem Verfall der Werte? Wird das Leben so beliebig bzw. geradezu sinnlos ohne Werte?

Worte wie „sinnlos“ oder „das macht doch keinen Sinn“ sind schnell artikuliert, aber ist es nicht auch der fehlende Sinn, der uns einsam macht?

Ich denke schon, denn anders kann ich mir nicht vorstellen, warum junge Menschen so intensiv nach neuen Orientierungen, nach Sinngebung und Idolen suchen, ob in der Medienszene, in der Esoterik oder in Selbsterfahrungs- und Psychogruppen.

Dies macht für mich eine Sinneinsamkeit deutlich.

Einsame Menschen gab es zu jeder Zeit. Doch oftmals ist die Einsamkeit in vielen Fällen, gerade in unser Gesellschaft, auf Selbstzweifel gegründet. Die durch die Medien gelieferten und propagierten Idealbilder wirken unterstützend bei dem Gedanken, auf einmal nicht mehr mithalten zu können. Niederlagen werden oft als persönliches Versagen interpretiert oder durch die Gesellschaft zum persönlichen Versagen gemacht, und zum Selbstschutz zieht man sich eben zurück.

Wer für sich und allein ist, muss sich nicht zwangsläufig einsam fühlen. Andersherum kann jemand, der viele gesellschaftliche Kontakte unterhält und nicht allein lebt, sich sehr wohl einsam fühlen. In vielen Gesellschaftsordnungen wird Alleinsein und Einsamkeit oftmals gleichgesetzt und eher negativ bewertet. Es werden oft die Anzahl der sozialen „Beziehungen“ und nicht die Qualität dieser zum Maßstab.

So wird z.B. der Begriff „Freund“ für mich zu schnell genannt. Wer augenscheinlich wenige Freunde hat und nicht dauernd unterwegs ist, auf den passt das gesellschaftlich geprägte Bild einer selbständigen und kompetenten Person nicht. Dies kann leicht zum Selbstbild, zu einer sich selbsterfüllenden Prophezeiung werden. Viele Menschen schrecken davor zurück, sich mit anderen Menschen auszutauschen, wenn sie mit einer Situation nicht mehr zurecht kommen oder nicht immer Herr der Lage sind. Ist es nicht zu beobachten, dass es eine Rückkopplung zwischen dem Verhalten einzelner, einsamer Personen und ihrer Umwelt gibt?

Für sie ist es fast unmöglich, ein freundliches Wort oder gar ein Kompliment entgegenzunehmen. Interesse, Lob und Kritik prallen einfach an ihnen ab. Sie ziehen sich auf ihre Burg zurück, wo Enttäuschung ein Fremdwort ist. Doch welchen Preis müssen unsere Burgfrauen und -herren dafür zahlen? Der einsame Mensch fühlt sich allein in einer Welt ohne Mitgefühl, doch in Wirklichkeit überträgt er seine Gefühle oder Nichtgefühle auf seine Umwelt.

Besonders angstvoll und schmerzhaft erlebt der Mensch seine existentielle Einsamkeit in Umbruchphasen oder Trennungen.

Wenn das Weltbild in seinen Grundfesten erschüttert wird, wenn das gewohnte Leben aus der Bahn gerät, muss versucht werden, eine neue Mitte zu finden. Dieser Prozess macht Menschen psychisch offener, aber auch verletzlicher. Solche Phasen müssen nicht immer offen zutage treten, sind aber existent. Mit Enttäuschungen umgehen zu können, Einsamkeit als notwendige Schattenseite zu akzeptieren, setzt eine Ichvorstellung voraus, die manchen, ja vielen Menschen in unserer Gesellschaftsordnung fremd sind.

Vielleicht habt ihr selbst schon die Erfahrung gemacht, wie schwer es auf Dauer ist, das Verhalten eines introvertierten oder gehemmten Mitmenschen zu ertragen. Wie gerne geht man dann lieber auf Distanz, ohne sich dabei bewusst zu machen, dass man genau mit dieser Reaktion den Teufelskreis der Einsamkeit nur noch verstärkt.

Meine Brüder, ich bin vor kurzem Vater geworden, und mir ist aufgefallen, dass das Leben mit einer Trennung beginnt. Die Nabelschnur wird durchtrennt und entzweit die Mutter und ihr Kind. Wie es beginnt, so endet es auch. Wir müssen uns von unserem bewussten Leben trennen. Wie ihr bemerkt, wird von Anfang bis Ende unser Leben von Trennungen beeinflusst. Wie ihr wisst, ist es manchmal ganz gut, sich zu trennen bzw. Dinge zu trennen. So müssen wir uns von der Arbeit trennen, um uns um unsere Nächsten zu kümmern und uns wiederum von diesen trennen, um anderen Dingen nachgehen zu können.

Die Summe der Trennungen fühlt der Mensch als Einsamkeit. Der Versuch der Kontaktaufnahme anderer Menschen wird von dem Einsamen u. U. nicht wirklich bemerkt.

Nun, meine Brüder, ich behaupte, dass jeder von euch die eine oder andere Art der Einsamkeit bereits empfunden hat bzw. empfindet.

Wenn dem nicht so wäre, säßet Ihr heute nicht hier im Kreise der Brüder.

Wie ist es denn?

  • Es ist der Suchende, der um Aufnahme bittet.
  • Es ist der, „der in sich hineinschaut“, dem das Licht gegeben wird.
  • Es sind wir, die sich das Gelöbnis gegeben haben.
  • Es sind wir, die sich einander die Hände reichen.
  • Es sind wir, die sich der Humanität aus vollem Herzen widmen .

Aber !!:

  • Es sind wir, die einsam in der Kette stehen.
  • Es sind wir, die dem Bruder nicht mit Rat und Tat zur Seite stehen.
  • Es sind wir, die einander nicht vertrauen und die heiligsten Prinzipien missachten.
  • Es sind wir, die nicht dem Bruder helfen, wenn er Hilfe braucht.
  • Es sind wir, die das persönliche Wohl vor das Wohl der Gemeinschaft stellen.

Es sind wir, weil wir Menschen sind; nicht mehr und auch nicht weniger.

Deshalb !:

  • Lasst uns den Bau am Tempel der Humanität fortführen, damit uns das Gefühl der Leere aus der Mitte unseres Körpers genommen wird.
  • Lasst uns einander aus der Kette der Hände, aber nicht aus der Kette der Herzen entlassen.
  • Lasst uns das uns gegebene „Du“ als ein solches nutzen; mit all seinen Vor- und Nachteilen.
  • Lasst uns die TOLERANZ großschreiben.

 

Meine Brüder, wir sind alle gewandert und wurden dabei von einem Freund vor etwaigen Gefahren beschützt. Wir sollten uns bemühen, dass wir diese Reisen nicht nur symbolisch vollziehen, sondern ihren Symbolgehalt auch verinnerlichen.

An meinem rauhen Stein arbeitend verbleibe ich mit den Sätzen:

Suchet, so werdet Ihr finden

Bittet, so wird euch gegeben.

Klopfet an, so wird Euch aufgetan.

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