Während meiner Zeit in der Schweiz habe ich gelegentlich in Ausstellungen das Bild „Zwei Männer, einander in höherer Stellung vermutend“ von Paul Klee gesehen. Es handelt sich dabei um eine Radierung, welche zur Werkgruppe Inventionen gehört, insgesamt elf Arbeiten aus den Jahren 1903 bis 1905. Paul Klee selbst bezeichnete diese Kunstwerke in seinem Tagebuch als Opus I und somit als ersten meisterlichen Beleg eigenständigen Schaffens. Mit ihrer sorgfältig detaillierten, reliefartigen Ausarbeitung erinnern diese Grafiken an die Arbeitstechniken der sogenannten alten Meister.

Nach meiner Erhebung ist mir dieses Bild wieder in den Sinn gekommen. Warum? Vordergründig setzte sich der Künstler in den Inventionen mit der Triebhaftigkeit der Menschen auseinander, inspiriert von Vorbildern wie Francisco de Goya und Honoré Daumier. Speziell diese Arbeit hat geradezu einen gesellschaftskritischen, satirischen Charakter. Doch was hat das alles mit Freimaurerei zu tun?

Das möchte ich anhand einer kurzen Beschreibung der Radierung erläutern.

Eine wüstengleiche Einöde, hügelig, nicht sanft, nicht schroff, der Horizont nicht allzu fern. Ein akribischer Himmel spannt sich über diese Landschaft. Seine Farbe, sofern man von einer solchen sprechen kann, ist undefinierbar. Keine Wolken, keine Sterne, kein Wind, kein Dunkel, kein Licht – es ist nicht einmal erkennbar, ob es sich um einen Tag- oder Nachthimmel handelt. Jedenfalls ist er nicht der Ursprung des Lichtes, welches die Landschaft in ein schattenloses Dasein taucht. Die Hügel sind ihre eigene Lichtquelle, scheinen aus sich selbst heraus eine diffuse, nicht irdische Helligkeit zu verbreiten.

Im Zentrum des Bildes ein etwas abgeflachter Stein, wie grob behauen, nicht allzu groß, vielleicht rund, vielleicht ein längliches Viereck, positioniert mit einer Schmalseite zum Betrachter des Bildes. Ein Altar vielleicht? Wer oder was soll auf diesem Stein geopfert werden, und wem?

Der Vordergrund des Bildes wird ganz eingenommen von zwei einander gegenüberstehenden Personen, den Blick aufeinander gerichtet. Ihre Haltung ist gebückt, Hände und Arme vor der Brust gekrümmt, scheinbar zum Gruße ansetzend, die Beine in der Stellung verhaltenen Schreitens, wie eben stehengeblieben, oder im Begriff, stehenzubleiben. Beide Personen sind vollkommen nackt. Selbst eine Behaarung ist nur an den Köpfen auszumachen. Bärte, knotige Gliedmaßen, verwachsene Körper in grotesker Haltung. Sie gleichen sich; Gestik und Körperbau ähneln einander, spiegelbildlich sind sie um die Bildmitte mit dem Altarstein angeordnet.

Überhaupt ist das Bild einigermaßen axialsymmetrisch aufgebaut: selbst die Signatur des Künstlers links unten, ein Kleeblatt, findet ihre Entsprechung in einer Blume am rechten unteren Rand des Bildes. Ein schütteres Blümlein: ein Stiel, zwei Blätter, der Kelch mit den randständigen Blütenblättern vom Bildbetrachter abgewandt.

Warum stehen die Männer in dieser für Menschen unnatürlichen Haltung? Warum in den Blicken dieser lauernde, bemessende Ausdruck, halb unterwürfig, halb gierig?

Ein Gruß, wie es der Titel des Bildes suggeriert?

Oder ist es das Alter, welches diese Menschen beugt? Die ausgemergelten Leiber gekrümmt von der Last der Jahre, gezeichnet vom fortschreitenden Verfall, gedemütigt von der aus technologischer Sicht vollkommen unzureichenden Konstruktion ihrer Körper; eine notwendige Nachlässigkeit: notwendig, zu vergehen. Notwendig für den Tod, das schöpferische Korrektiv der Evolution, eine Hülle, vorbestimmt, den Code weiterzugeben, vorbestimmt zu verfallen, um neuen Körpern als Materiallager zu dienen, ihnen Platz zu machen im scheinbar ewigen Reigen aus Werden und Vergehen. Die Männer reduziert zu Trägern des Erbguts, sie sind Boten, die den Code weitergeben, sinnlos und nicht denkbar ohne ihre Botschaft.

Oder ist die gebeugte Haltung Ausdruck der kurzen Zeit, die vergangen ist, seit die Männer – viel zu früh – sich von ihrem wilden Stammbaum lösten, nah noch verwandt mit Affen und Lemuren? Als sie von jenem Ast herabstiegen, der nach ihren Vorstellungen ein Ableger vom Baum der Erkenntnis war, ausgeworfen in jene Wüstenei, in welcher sie sich wie Robinson Crusoe entsprechend ihren begrenzten Möglichkeiten und Fähigkeiten, die sie sich weder bestellt noch ausgesucht haben, schließlich mit Eifer und Beharrlichkeit leidlich einrichteten, nicht ohne es zu unterlassen, sich in ihrer schrecklichen Unwissenheit die Krone der Schöpfung, die von Außen betrachtet eher einer Narrenkappe gleicht, aufs Haupt zu setzen. Ist das verhaltene Schreiten, der in der Bewegung gefrorene Schritt Zeichen des ungewissen Verharrens auf der Schwelle zur nächsten Evolutionsstufe?

Der abschätzende Blick Ausdruck von zwar schon nach Abstraktion strebenden Wesen, die jedoch der Anschaulichkeit noch nicht entbehren können, die gelangweilt, abgestoßen, unzufrieden sind, wenn Erfahrung nicht auf praller Sinnlichkeit beruht, die riechen, lecken, schmecken, greifen müssen, um erkennen zu können, selbst deren kühnste Geister sich mehr oder weniger heimlich und beschämt mit Modellen und Bildchen behelfen, weil sie der Sinnlichkeit nicht entsagen, in der Welt der rein abstrakten Argumente nicht heimisch werden können.

Vor vier Sekunden trat der Mensch aus dem Dunkel, wenn die Welt einen Tag dauert, vier Sekunden seit dem Biss in den Apfel. Vier Sekunden vergebliche Abbitte von der Sinnlichkeit. Vier Sekunden Maß nehmen: Jäger oder Beute, Amboss oder Hammer, Spreu oder Weizen. Vier Sekunden, seit die Menschen die den Tieren eigene automatisierte Handlung, das durch Instinkte und Triebe vorgegebene Tun verloren, vier Sekunden vergeblicher Mühe, die daraus entstandene Freiheit zu nutzen, die entstandene Lücke, die sie vom Rest der Schöpfung unterscheidet, mit Vernunft zu füllen, mit dem Versuch, all das, was Tieren genau vorgegeben ist, auf eigene Rechnung, auf eigene Verantwortung zu tun.

Es gibt mehr Freiheit als Vernunft.

Die nackten Leiber der beiden Männer mit den sorgfältig gestutzten Bärten: Zeichen des vergeblichen Bemühens, die gewonnene Freiheit mit vernunftgeborener Kultur zu bändigen. Nicht einmal für ein Feigenblatt gereicht dieses Deckmäntelchen, und selbst dessen Urheberschaft verleugnen sie: im panischen Schrecken ob ihrer eigenen Fähigkeiten, befremdet und beunruhigt von der Macht der eigenen Vernunft reden sie sich feierlich ein, eine übergeordnete Instanz leite ihr Tun, vor der sie sich verneigen, die sie mit jenen Opfern günstig zu stimmen meinen, welche sie auf dem Altar in der Mitte des Bildes zu schlachten sich anschicken. Kräfte des Himmels oder der Erde lenken ihre Schritte durch die sonnenlose Steinwüste, von Kultur zu Kultur, vom Paläolithikum ins Neolithikum, von Sumer nach Babylon, von Barock zu Rokoko und so weiter, in stetem Wechsel, in permanentem Übergang von einem Zustand zum nächsten.

Also sind die beiden Männer Übergangswesen? Temporäre Gäste auf der Bühne des Schicksals, gezwungen, ihr Geschick in die eigenen Hände zu nehmen, gequält von ihrer Anthropodizee, die sie zwischen Hoffnung und Verzweiflung wanken lässt. Der verhaltene Schritt der beiden: ein Tanz, ein Balztanz vielleicht, mit dem sie einander um Aufmerksamkeit buhlen, zwei Glieder einer ewig währenden allumspannenden Kette, E.l.i.S., Phönix aus der Asche, sich mit goldenen Schwingen erhebend aus dem Unrat der Geschichte, Aasgeier am Leib der Väter im widerstrebenden Bewusstsein dieser Notwendigkeit, empfunden als Strafe der Götter, doch immerhin als Verbindung zu diesen interpretiert: wie Prometheus´ hundsköpfiger Adler, doch keine Leber wächst nach, der Fundus der Friedhöfe, den Asservatenkammern der Biosphäre ist endlich.

Sie suchen ihren Weg zwischen Phasen, Niveaus, Zuständen; Ruhe ist Tod!; Kultur um Kultur um Kultur, wie Ratten in einem Labyrinth, das durch die verschlungenen Arme der Männer ins Bild und ins Bewusstsein des Betrachters tritt, eine wird den Ausgang finden, einer wird auf Grund seiner Annahmen beweisen, warum die Evolution eine Erfolgsgeschichte ist.

Zwei Kreaturen, zwei Schöpfungen, die vergehen müssen, um wieder geboren werden zu können, die sich auf dem Altar der Erkenntnis opfern beziehungsweise, je nach Vorliebe, sich ans Kreuz nageln lassen müssen, um ihr Himmelreich auf Erden errichten zu können, die Freiheit der Lücke in sich nutzend, die vernunftgegebene Leere scheinbar füllend, wie das einsame Blümlein die Weite der Wüste des Bildes füllt; Übergangswesen, einander wieder und wieder spiegelnd, selbstähnlich bis zur Absurdität, der Code wird weitergegeben, ein Plagiat der Schöpfung an sich selbst, ein Passionsspiel, dessen Protagonisten in erwartungsfroher Selbstüberschätzung jenes verlorene Wort suchen, welches die Landschaft des Bildes heute wie einst in unwirkliches, in überirdisches Licht taucht.

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