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Die Geschichte des Freimaurerbundes ist eng mit der Geschichte der Philosophie verknüpft. Für unsere heutige moderne Zeit leitet diese sich aus der kosmologischen Naturphilosophie von Kopernikus, Galilei und Kepler, aus der theosophischen Naturphilosophie von Jakob Böhme, aus den Lehren der großen Programmatiker Montaigne, Giordano Bruno und Francis Bacon und aus den konstruktiven Systemen von René Descartes, Thomas Hobbes, Baruch Spinoza, John Locke und Gottfried Wilhelm Leibniz ab. Die Aufklärung in England unter Isaac Newton, George Berkeley und David Hume, in Frankreich unter Montesquieu, Voltaire, La Mettrie, Diderot, d‘ Alembert und Jean Jaques Rousseau und in Deutschland unter Christian Wolff und Gotthold Ephraim Lessing hatte in Immanuel Kant den Höhepunkt erreicht und überschritten. Kant war Pflichtmensch mit einer apriorischen Moralphilosophie und einer Formalethik, die sich in die Worte zusammenfassen läßt: denke und handle allgemeingesetzlich, denn es gibt eingeborene, von jeder Erfahrung und Erlebensweise freie Werte. Diese Denkweise wurde auch mit Grundlage des Freimaurerbundes und fand in Johann Gottlieb Fichtes „Bestimmung des Menschen“ ihren Niederschlag.

Seitdem sind 150 Jahre vergangen. Die Krönung des deutschen Idealismus in Georg Friedrich Wilhelm Hegel, der Spätidealismus, die Wendung zur Historie, der Umschlag in den Materialismus unter Ludwig Feuerbach, Max Stirner, David Friedrich Strauß, Bruno Bauer und Jakob Moleschott führten drei Wurzeln moderner Philosophie herauf: den Positivismus unter Auguste Comte, Ernst Mach, Richard Avenarius, Moritz Schlick und Rudolph Carnap; den dialektischen Materialismus unter Karl Marx, Friedrich Engels und Iljitsch Lenin; und die Existenzphilosophie unter Sören Kirkegaard, Martin Heidegger, der vielleicht durch Edmund Husserl vorbereitet ist, und Karl Jaspers, einschließlich der französischen Modifikation unter Jean Paul Sartre und Albert Camus.

Während die Positivisten vorwiegend einen bestimmenden Einfluß auf die modernen Naturwissenschaften ausgeübt haben und daher für unsere Fragestellung bis zu einem gewissen Grade abseits stehen, erfordern der dialektische Materialismus und die Existenzphilosophie eine Stellungnahme zu ihren Lehren. Diese läuft auf die Frage hinaus: Muß unter den Ergebnissen dieser Lehren das Kantische Fundament des Maurerbundes überprüft oder sogar aufgegeben werden.

Die Hauptrichtungen der Gegenwartsphilosophie zeigen eine Bewegungsrichtung „von Kant weg“ oder besser, wie Windelband sagt, „über Kant hinaus“. Angriffspunkt ist der Dualismus in der Philosophie von Kant, den er zwischen der „Welt der Erscheinungen“ und dem „Ding an sich“ bewußt eingeführt hat. Wenn wir an Max Plancks „Sinnenwelt“ und die ihr entsprechende „reale Welt“ denken, die hinter jener stehe, selbst niemals zu erkennen sei und sich nur in den Zeichen, die sie uns manchmal gebe, erahnen lasse, so scheint die Zeit von Kant gar nicht so weit von der unsrigen entfernt zu sein. Und doch hat gerade der „absolute deutsche Idealismus“ in Hegel versucht, diesem „Ding an sich“ den Todesstoß zu versetzen. „An sich sein“, was heißt das, fragt Hegel. Ein logischer oder mathematischer Begriff ist „an sich“, ein etwas Unbedingtes, seine Gültigkeit raum- und zeitlos. Ein Punkt im Raum aber ist „an sich“ gar nichts. „An sich“ betrachtet, ist er jedem anderen Raumpunkte gleich, ununterscheidbar gleich! Was ihn zu diesem bestimmten Raumpunkte macht, ist nur seine Lage, das heißt, seine Beziehung zu anderen Raumpunkten. Er ist nur dadurch dieser bestimmte Punkt, daß er „anders“ ist als die anderen. Sein Sein ist ein Anders-Sein.

Hegel hat sich weit von Kant entfernt und die Grenzen überschritten, die Kant ein für alle Male aufgerichtet haben wollte. Was unter den alten Griechen Parmenides als erster getan hat, nämlich Dialektik betreiben, das hat Hegel zum Prinzip des Seins erhoben. Das aber hat ihn verführt anzunehmen, die gesamte Fülle der empirischen Wirklichkeit, der Wirklichkeit der Erfahrung, könne aus den Gesetzen der Selbstbewegung des Denkens abgeleitet werden. Und das ist ein Trugschluß. Denn wenn es richtig ist, daß die Gesetzlichkeit des Denkens in der Entfaltung und nachfolgenden Entwicklung immer neuer Widersprüche liegt, und wenn es richtig ist, daß auch die wirkliche Entwicklung sich im Entfalten und Überwinden von Widersprüchen vollzieht, so besteht zwischen beiden doch ein grundsätzlicher Unterschied. Er liegt in der Tatsache, daß der logische Widerspruch einer realen Gegensätzlichkeit der Dinge gegenübergestellt wird. Das logische Gegenteil eines Satzes kann stets logisch abgeleitet werden. Aber der reale Gegensatz zu einer realen Erscheinung kann niemals logisch abgeleitet werden. Ein Satz kann widerlegt werden. Eine Kanone bleibt aber immer eine Kanone. Sie besitzt keine reale Gegensätzlichkeit und hat daher mit Logik und dem Satze des Widerspruchs nichts zu tun. Sie bleibt real und ist niemals ein logischer Widerspruch zu sich selbst.

Hans Joachim Störig betont daher zu recht: Hegel verkannte nicht, daß die Dialektik in der Geschichte eher ein revolutionäres als ein konservatives Prinzip ist. Die in der geschichtlichen Wirklichkeit gerade in der Zeit Hegels mit der beginnenden Industrialisierung schon angelegten tiefgreifenden Widersprüche mußten alsbald zum Ausbruch drängen und führten dann auch zu jenen Erschütterungen, die das 19. und 20. Jahrhundert erfüllt haben und noch erfüllen. Karl Marx, der hier ebenso wie sein Schüler Lenin nur als Philosoph und nicht als Politiker betrachtet werden kann, bediente sich in seinem Denken, das diese folgenreichen Erschütterungen vorbereitet hat, der dialektischen Methode Hegels.

Indem Hegel die weise Mäßigung von Kant überschritt, hat er das Tor für das eröffnet, was heute vor uns liegt und uns mit Nachdenken erfüllt: die Weltanschauung des dialektischen Materialismus. Nun ist aber Hegel beileibe kein Materialist! Im Gegenteil, er ist eher der Vollender des deutschen Idealismus, er ist sogar der „absolute Idealist“ gewesen. Aber gerade hierin liegt der Schlüssel für das Verständnis unserer Zeit. Der dialektische Materialismus ist ohne den deutschen Idealismus weder zu verstehen, noch hätte er ohne ihn eine solche eruptive Startmöglichkeit gehabt. Das muß berücksichtigt werden, wenn der dialektische Materialismus kritisch betrachtet werden soll. Dabei wird auch das klar, was er aus jenem gemacht hat. Man erkennt das alte Prinzip, das in der Menschheit wirkt: Prometheus brachte den Menschen das Feuer – und sie wurden Brandstifter. Archimedes schenkte den Menschen Geräte, auf daß sie nicht mehr nur im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot verdienen sollten – und sie bauten Kriegsmaschinen. Otto Hahn schenkte den Menschen die Kräfte, die die Welt im Innersten zusammenhalten – und sie schufen die Atombombe. Gibt man dem Menschen ein scharfes Messer in die Hand – er wird mit Sicherheit zum Mörder werden. Materialisten gab es zu Demokrits Zeiten auch, und die Dialektik ist die Erfindung des Griechen Parmenides Zur Methodik von These, Antithese und Synthese hat sie erst Hegel entwickelt. Wie die Menschen so oft Geschenke der Götter und ihrer Lieblinge mißbraucht haben, so wurde auch Hegels Geschenk an die Menschheit Mittel zu einem anderen Zweck.

An sich ist der Materialismus eine natürliche Denkart des Menschen. Allein im abendländischen Kulturkreise, nur diesen haben wir bisher stets betrachtet, waren gewissermaßen sämtliche älteren griechischen Naturphilosophen Materialisten. Thales ging vom Wasser aus. Heraklit vom Feuer. Alles Wirkliche war ihnen zugleich auch Körperliches. Erst der Atomist Demokrit aus Abdera (um 470 – 360) schritt zu einem bewußt monistischen Materialismus fort. Seine mechanistische Weltauffassung führte ihn zwangsläufig dazu. Auch die Seele bestand bei ihm aus den Körper durchströmenden Feueratomen. Denken, Wahrnehmen, Fühlen waren Bewegungen von Seelenatomen, also mechanische Vorgänge im Körper des Menschen. Vorbereitet durch die kosmologische Naturphilosophie der Renaissance, durch Kopernikus, Galilei und Kepler, griff René Descartes (1596 – 1650) über tausend Jahre später diesen Gedanken zunächst für das Tier wieder auf. Hundert Jahre darauf dehnten ihn der französische Arzt La Mettrie, sowie Helvetius und Holbach dann auch auf den Menschen aus. Alles Seelische war für sie rein materielle Funktion, Nerven- und Gehirntätigkeit. Aber zu diesem materialistischen Weltbilde trat bei ihnen noch ein neuer Gedanke hinzu, nämlich eine auf die Selbstliebe begründete und optimistisch zugespitzte Ethik mit einem ausgesprochenen, ja sogar aggressiven Atheismus. Religion wurde Priestererfindung und Priesterbetrug; Unsterblichkeit, die Vorstellung eines jenseitigen Gerichts und das Fortleben der Seele nach dem Tode, die ewige Verdammnis würden Gedanken, die durch die Angst, die sie im Menschen erwecken, weit mehr Schaden gestiftet und Unglück in die Welt gebracht hätten, als sie haben Trost gewähren können. Religiöse Antriebe der Sittlichkeit wären überflüssig oder führten zur Selbstquälerei und zum Fanatismus. Sie wären die Ursachen der Religionskriege, der Ketzerverfolgungen und der Hexenverbrennungen. Hier bereiten sich die Gedanken der Neuzeit vor: der Atheismus der dialektischmaterialistischen Weltanschauung und die Angst als Kernproblem der Existenzphilosophie und besonders des französischen Existentialismus. Die Kirchen- und Religionsfeindlichkeit der französischen Revolution wird verständlich, und zwar mit ihren unmittelbaren Folgen. Denn einmal hat hier die Massenbewegung ihren Ursprung, die das Zeitalter der großen politischen Parteien eingeleitet hat; dann aber schlief auch die Enttäuschung über die sozialen Errungenschaften der Revolution nach dem mißglückten Aufstande von Babeuf nicht mehr ein. Die „großen Utopisten“ Claude Henri de St. Simon, Charles Fourier und Joseph Proudhon verbanden mit ihren sozialistischen Ideen den Glauben an die Wissenschaft und an die Technik, an das goldene Zeitalter, das die sozialistische Gesellschaftsordnung und die wissenschaftlich-technische Naturbeherrschung der Menschheit bescheren würden. Versuche zu seiner Realisation sind seit dieser Zeit im Gange. Doch damals fehlte noch eines, das dieses materialistische Naturbild zur Weltanschauung zu erheben vermochte, nämlich die Methode, es zur Weltanschauung auszugestalten. Diese lieferte, sicherlich unfreiwillig und bestimmt nicht in der später angewandten Form, Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770 – 1831). Vorbereitet durch Ludwig Feuerbach, Jakob Moleschott, Ludwig Buchner und Carl Vogt behielt Karl Marx die Hegelsche Dialektik für seine Philosophie als Methode bei. Aber er erfüllte sie mit einem, dem Hegelschen genau entgegengesetzten Inhalt. „Er dreht sie um 180 Grad herum,“ meint Störig, „wodurch sie nach Marxens Ansicht, erst vorn Kopf auf die Füße zu stehen kommt“. Für Marx wird die Hegelsche Dialektik zum revolutionären Prinzip, weil er sie auf die Geschichte anwendet. Hier offenbart sich nun, was früher gesagt worden ist: der Satz des Widerspruchs hat nur in der Logik Gültigkeit. In der Sinnenwelt gibt es nur reale Erscheinungen der Körperlichkeit. Diese lassen sich durch keine Dialektik verändern, in das Gegenteil verkehren oder beseitigen. Marx sieht die Welt nicht als einen Komplex von festen Dingen, sondern von Prozessen, von Abläufen, von Auftauchen und Untergehen, von immerwährender Veränderung. Das pánta rhei von Heraklit, das Dahinfließen aus einem Werden in ein Vergehen, wird durchbrochen, indem Kaskaden und eruptive Ausbrüche eingeführt werden. Es gibt nichts Endgültiges und Absolutes. Es gibt auch kein stetiges Sich-eins-aus-dem-anderen-entwickeln. Nur die Eruption formt Neues, wie Vulkane die Erdoberfläche verändert haben oder die Sonnenflecken Einfluß auf das irdische Leben ausüben. In diesem Sinne schuf Marx mit Friedrich Engels die „materialistische Geschichtsauffassung“. Als letztbestimmende Faktoren der geschichtlichen Konstellation und Entwicklung betrachteten sie die ökonomischen Verhältnisse. Von ihnen hinge zunächst die Struktur der Gesellschaft, ihre Gliederung in Klassen, und damit die tatsächliche Machtverteilung ab. Der Kampf ist der Vater aller Dinge, sagte Heraklit. Marx formuliert: Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Das Proletariat, der Stand der freien Lohnarbeiter, müsse den Besitz der Produktionsmittel aus der Hand der Wenigen, nämlich der im Konkurrenzkampf übrig gebliebenen Kapitalisten, in die eigene und damit in die Hand der übergroßen Allgemeinheit übernehmen. Die Wirtschaft selbst müsse sonst in ihrer Produktionskraft versagen und in einer katastrophalen Krise mit einem Massenuntergang und Kulturrückgang auf primitivste Formen zurückgeworfen werden. Man könnte hier ein Faustwort abändern und sagen: Im Anfang war der Irrtum! Die Schwierigkeiten, in die sich Marx mit seiner Philosophie hineingearbeitet hatte, erkannte sein Schüler Iljitsch Lenin sehr deutlich. Er versuchte, sie durch eine Umschreibung der dialektischen Entwicklungslehre zu umgehen. Er sagt, die Entwicklung sei eine solche, die die bereits durchlaufenen Stadien gleichsam noch einmal durchmache, aber anders, auf höherer Stufe, als „Negation der Negation“, eine Entwicklung, die nicht geradlinig, sondern sozusagen in der Spirale vor sich geht; eine sprunghafte, mit Katastrophen verbundene, revolutionäre Entwicklung; „Unterbrechung der Allmächtigkeit, Umschlagen der Quantität in Qualität; neue Entwicklungsantriebe, ausgelöst durch den Widerspruch, durch den Zusammenprall der menschlichen Kräfte und Tendenzen, die auf einen gegebenen Körper oder innerhalb der Grenzen einer gegebenen Erscheinung oder innerhalb einer gegebenen Gesellschaft wirksam sind“. Zweierlei wird dabei deutlich: der Satz des Widerspruchs aus der Logik wird auf reale, gegenständliche Dinge angewandt – Kanone ist demnach nicht Kanone, es existiert ein realer Widerspruch dazu – und der Akzent des Widerspruchs ruht zweifelsfrei auf dem Worte „Gesellschaft“.

Die atheistische Gesamthaltung bleibt und gibt dem Denksystem des Marxismus-Leninismus die letzte Vollendung. So versucht der dialektische Materialismus als atheistischer Monismus in der Mitte des 20. Jahrhunderts die Herrschaft ebenso anzutreten, wie einst der Monismus Demokrits das vorsokratische Denken zu beherrschen versucht hat. Der Mensch soll wieder das Mal aller Dinge werden wie einst bei Protagoras. Und wie auf die Materialisten des Altertums Platon und Aristoteles folgten, so beschwor in der Neuzeit Friedrich August Trendelenburg den Geist des Stagiriten.

Zwingt die moderne philosophische Weltanschauung des dialektischen Materialismus den Freimaurerbund zu einer Berichtigung oder gar zur Aufgabe seiner bisherigen Grundsätze? Der dialektische Materialismus ist wie jeder Materialismus und Monismus einseitig. Er kennt und anerkennt nur die eine Seite der Wirklichkeit, die Welt der Erscheinungen, die Empirie, den Positivismus. Alles, was positiv da ist, ist auch Sein. Es gibt nur eine Erkenntnis, das ist die Erkenntnis aus der Empirie. Erkenntnis aus Denken, eine Metaphysik, gibt es nicht. Deshalb muß der Materialismus atheistisch sein. Beide Voraussetzungen gehen aber in das Denken des Freimaurers nicht ein. „Der Freimaurer muß Gottesverehrer sein, so wahr er der Tugend Tempel, dem Laster aber Kerker bauen soll“, sagt Ignatius Aurelius Feßler in seinem Aufnahmeritual. Atheismus hat hier keinen Raum. Obgleich das Handeln des Freimaurers diesseitig, dem Menschen zugewandt ist, bleibt für ihn die Welt der Erscheinungen, die phänomenale Welt und Wirklichkeit, in der der Mensch sein wahres Betätigungsfeld als wollendes und sollendes Ich, als zóon pantelés, besitzt, bleibt ihm sein Wissen um sein geistiges Wesen, um sein in ihm liegendes zóon metaphysikón. Dialektischer Materialismus und Freimaurertum sind daher nicht in einer Weltanschauung zu vereinen.

Wie steht es nun mit der zweiten Richtung in der modernen Philosophie? Mit der Existenzphilosophie unter Einschluß der „Phänomenologie“ und ihren letzten Ausklängen in dem französischen Existentialismus von Jean Paul Sartre?

Die Existenzphilosophie ist aus der „Lebensphilosophie“ hervorgegangen. Diese kann als Teil der großen Gegenbewegung gegen Aufklärung und Rationalismus angesehen werden. Sie will das „lebendige Sein“, das mit den Mitteln des bloßen Denkens nicht zu erfassen ist, verstehen. Ihre Vertreter bauen zum großen Teile auf Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche auf. Sie sind „Aktualisten“. Starres Sein, wie Parmenides das gelehrt hatte, gilt wenig. Das „pánta rhei“, das ewige Fließen und Werden, die Bewegung, die Entwicklung sind wesentlich. Die „Wirklichkeit“ ist für sie organisch und ruht meist in der Biologie. Die Philosophie ist irrational. Begriffe, logische Gesetze, apriorische Formen werden zwar nicht abgelehnt, sind aber nur sehr beschränkt taugliche methodische Mittel, Intuition, gefühlsmäßiges Erfassen, unmittelbare Anschauung, Verstehen und Erleben werden bevorzugt. Es gibt eine von unserem Denken unabhängige objektive Wirklichkeit. Dem „Leben“ steht mindestens ein Prinzip – meist sind es mehrere – gegenüber.

Was fördert nun eine solche Philosophie zutage? Von einer Reihe von Zwischengliedern abgesehen, die sich nicht haben durchsetzen können, ragen heute zwei Richtungen in unsere Zeit: die „Phänomenologie“ von Edmund Husserl und die „Existenzphilosophie“ von Martin Heidegger und Karl Jaspers bis zu Jean Paul Sartre. Beide verbindet, daß Aktträger und Aktvollzieher des spezifischen Seins die „Person“ ist. Die formalistische und imperativistische Ethik wird bei Max Scheler (1875 – 1928) und Nicolai Hartmann (1882 – 1950) zur Wertethik. Das Sein wird auf den Menschen bezogen und auf seine „Seinsmodalitäten“ im „Dasein“ und „So-sein“, oder bei Martin Heidegger (geb. 1889) als „In-der-Welt-Sein“, als „In-sein“, gesehen. Die Welt des „Da-Seins“ ist „Mit-Welt“. Das „In-Sein“ ist „Mit-Sein“ mit anderen. Die Weisen des „In-Seins“ haben daher die Seinsart des „Besorgens“, und zwar in der schönen, vieldeutigen Auslegungsmöglichkeit, die dieses Wort gerade in der deutschen Sprache zuläßt. Die “Um-Welt“ des „Besorgens“ wird als „Zeug-Welt“ und „Werk-Welt“ gleichbedeutend mit der Sinnenwelt. Die Angst, die dieses „Besorgen“ oder besser Besorgtsein, mit sich bringt, erschließt das Nichts, als dessen Platzhalter sich der Mensch erweist. Die Existenzphilosophie von Karl Jaspers (geb. 1883) stammt ebenfalls „aus der Liebe zum Sein in der Erfahrung des Nichts“. Aber er unterscheidet „Weltsein, Existenz und Transzendenz“, also die drei alten großen Themen der Philosophie: Welt, Seele und Gott. Nach Jaspers ist Existenz das, was sich zu sich selbst und darin zu seiner Transzendenz verhält. Was ist nun „Existenz“?

  • Existenz ist stets Existenz des Menschen. Insofern ist die Existenzphilosophie „humanistisch“. Der Mensch steht in ihr im Mittelpunkt.

  • Existenz ist stets individuelle Existenz. Daher ist die Existenzphilosophie subjektiv. Die individuelle Existenz ist nicht weiter ableitbar. Darin liegt der Unterschied zu der „Lebensphilosophie“ im allgemeinen.

  • Existenz ist kein unveränderliches Sein, sondern an Zeit und Zeit lichkeit gebunden. Sie ist „In-der-Zeit-Sein“. Daher ist die Existenzphilosophie nicht statisch sondern dynamisch. Wieder muß an Demokrit und sein „pánta rhei“ erinnert werden.

  • Existenz ist unmittelbares Erfassen des „In-der-Zeit-Seins“, da her Aufhellung und Bewußtwerden der Erscheinung. also „Phänomenologie“.

  • Existenz ist zwar subjektiv, aber nicht individualistisch in dem Sinne, daß sie den Einzelnen isoliert. Menschliches ‚Da Sein“ ist stets „In-der-Welt-Sein“ und „Mit-einander Sein“.

Existenzphilosophie studiert also das Sein des Menschen in der Welt und seinem Verhältnis zu seiner Um-Welt und seinem Mit-einander-Sein. Sie ist also im gewissen Sinne Wertphilosophie, indem sie nicht nur das Da-Sein, sondern das So-Sein und darüber hinaus das So-Sein-Sollen anspricht. Sie setzt nicht nur ein „erkennendes Ich“, sondern auch ein „wertendes Ich“, ein „wollendes und sollendes Ich“. Sie ist stets „Ganzheitsphilosophie“ und umfaßt in „Weltsein, Existenz und Transzendenz“ die alten Anliegen des Philosophierens: Welt, Gott und Seele. Sie hat ihren Ursprung im Diesseits, ihr Anliegen im Diesseits, ihr Betätigungsfeld im Diesseits und ihre Richtung auf das Metaphysische. Diese Philosophie ist nicht atheistisch. Sie begreift den Menschen als zóon politikón, als zóon metaphysikón und zóon pantelés, den Menschen also als Körper, Seele und Geist. Und das ist das, was der Freimaurerbund fordert.

Die französische Umprägung dieser Existenzlehre durch Jean Paul Sartre (geb. 1905) und seine Anhänger sieht dagegen ganz anders aus. Von Sartre stammt der Ausdruck „Existentialismus“. An Martin Heidegger schließen sich die menschlichen Grundbefindlichkeiten von Sorge und Angst an. Sartre geht aber darüber hinaus. Er erblickt im Ekel des Menschen vor sich selbst eine Grunderfahrung und nimmt an, daß der Mensch „zur Freiheit verdammt“ sei. Im Gegensatz zu Heideggers Wendung vom Menschen als dem „Hirten des Seins“ ist der Mensch bei Sartre der, der das Sein selbst macht, sein eigener Schöpfer und der Herr des Seins. Hier ist der Existentialismus nihilistisch. Es gibt nichts anderes als das Da-Sein, dann kommt das Nichts. Notwendigerweise muß der nihilistische Existentialismus von Sartre auch atheistisch sein. Er steht damit als Philosophie neben dem dialektischen Materialismus. Und in diesem hat der Freimaurerbund, wie aufgezeigt worden ist, kein Fundament. So alt wie der Bund und sein Streben sind, so jung ist er in der Neuzeit, und um so mehr verpflichtet die Zugehörigkeit zu dem Bunde zum Dienst an der Menschheit.

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Literaturverzeichnis

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